Leuchtender Tag - Pallavicinirinne Großglockner

"Nicht traurig weil vorbei, sondern glücklich weil gewesen" 

Entgegen der untergehenden Abendsonne, lugen wir geblendet durch das Fernglas von der Kaiser-Franz-Josefs-Höhe Richtung Westen, Großglockner. Eine deutlich erkennbare Spur zum Glocknerbiwak bestätigt unsere Annahme, dass über das letzte Wochenende die Nordwandtouren gemacht wurden. Das Internet hat ebendies proklamiert und außerdem: Die Pallavicinirinne wurde vor geraumer Zeit von David Lama mit Ski befahren und auch ein paar Tage zuvor waren Fotos von zwei Aspiranten online – vielen Dank für das Teilen der Verhältnisse an dieser Stelle vorweg. Ein spontanes Zeitfenster und schon stehen wir da und blinzeln in die letzten Strahlen der tiefstehenden Sonne, ehe diese geschmeidig hinter den Johannisberg taucht und der Dämmerung den Vortritt lässt.

Um 2:30 Uhr setzen sich drei Paare Zustiegsschuhe in Bewegung und folgen dem Strahl der Stirnlampe hinab zur Pasterze. Am Wegrand verkünden Schilder mit hängenden Köpfen die Jahreszahlen des Gletscherstandes – traurige Apostel, die der unabwendbaren Gewissheit, dass der Stein des Klimawandels und des Gletscherschmelzens rollt und zwar mit Affenzahn, eine Stimme geben. Am Schild 2015 kann es nicht mehr weit zum Gletscherbeginn sein und doch müssen die Füße zu viele Schritte tun um auf Ski wechseln zu können. Nach der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik dürfte die Gletscherzunge der Pasterze bis 2050 fast völlig verschwinden (https://www.zamg.ac.at/cms/de/klima/news/gletscher-sehr-stark-geschmolzen [abgerufen am 25.05.17]).

Wir brauchen lange bis wir auf Höhe des Glocknerbiwaks ankommen. Die kräftige Morgensonne hat sich schon über den Horizont geschwungen, als wir die Gletscherbrüche zum Einstieg der Pallavicinirinne rechterhand umrunden. Es geht vorbei an den Nordwandklassikern Mayerlrampe, Berglerrinne und Aschenbrenner.Alle atmen während des ansträngenden Aufstieges, obwohl gute Verhältnisse und einfaches Stapfen, schwer. Heute laufen unsere Motoren nicht gerade rund. Der Rucksack wiegt schwer am Rücken und zieht an den Schultern. Es gibt solche und solche Tage, und heute ist sicherlich ein Tag an dem man den Rhythmus, den der Körper vorgibt, aufgezwungen bekommt. Wir fügen uns dem Metrum und bewegen uns, dem Berg Meter für Meter abkämpfend, langsam die Rinne hinauf, bis an den Punkt, an dem die eigentliche Kletterei beginnt.

Die Uhr zeigt halb zehn und erste Wolkenfetzen trüben das Azurblau des Himmels. Rasch haben sie sich um den Gipfel gehangen und knapp über uns, wo kurz vorher noch die Ausstiegslängen gelockt haben, sieht es plötzlich ganz schön ungemütlich aus. Wir beschließen auf den Gipfel zu verzichten. Priorität hat heute das Runter, nicht das Hoch. Eine Abfahrt in dieser ausgesetzten Steilheit verlangt Kraftreserven. Eine sichere und kontrollierte Skiführung ist hier obligatorisch.

Beim Anschnallen der Skier eröffnet uns eine kleine Unachtsamkeit, in Form eines losen Handschuhs, das Szenario, an das wir am liebsten gar nicht gedacht hätten. Die Schwerkraft verführt den Handschuh zu einem nicht enden wollenden Tänzchen, das die ganze Rinne – spielerisch überpurzelnd und taumelnd – überwindet. Sillstand: 550 Höhenmeter weiter unten am Wandfuß, sogar erst nach dem Bergschrund. Der Fall ist klar: „Fallen ist ein absolutes No-Go!“

Der Schnee ist oberflächlich weich, darunter griffig – Bingo! Sie Skier stehen mit gutem Halt in totaler Schräglage. Mit der Hand lässt es sich auf Hüfthöhe leicht in den Schnee neben einen greifen. Die Anspannung ist während der ersten seitlichen Abrutschmeter ertragbar, doch die Rinne möchte befahren und nicht „abgerutscht“ werden. Ein Spannungspeak, ein Zuspitzen zum Ansetzen des ersten Schwungs, eine Reduktion auf die motorischen Belange die Skier von einer Seite auf die andere zu drehen und dann verschmilzt das „Vor-dem-Schwung“ mit dem „Jetzt“ unserer Timeline: Nervenimpulse, Muskelkontraktion, ein Atemzug und die Schwerkraft greift mächtig nach uns. Seitliches Rutschen und Stillstand. Geschafft! Der erste Schwung ist überwunden. Die Nächsten Turns folgen mit erkennbar weniger Anspannung und ein Rhythmus stellt sich ein. Alles andere ist belanglos. Es ist das Hier und Jetzt das alles ausmacht, verschmolzen mit der Zeit und getragen von der Existenz, Schwung für Schwung. Erst vor dem letzten Teil, einer schmalen felsdurchsetzten Schneerinne, die zum Handschuh führt, verfliegt der Zauber. Mühsam poltern wir mit Skiern an den Füßen über Felsen steigend, manchmal etwas abrutschend, zum Bergschrund und anschließend auf das flache Plateau unterhalb der Glockner Nordwand.

Ab hier, nochmal für wenige Meter bergauf die Felle aufgezogen und den Handschuh aufgelesen, liegen noch über 1000 Höhenmeter in feinstem Firn, hinab zur Pasterze sowie unseren Schuhen, vor uns. Jeder Turn ein Genuss, begleitet von der Sonne die sich erneut durch die Wolken gekämpft hat. Der Gletscher strahlt in magischen Farben und in gleicher Intensität, wie unsere Augen vor Glück. An den Zustiegsschuhen angekommen, schultern wir unser Skiequipment und steigen zur Kaiser-Franz-Josefs-Höhe auf.

Am Schild mit der Aufschrift „Gletscherstand 1980“ erfasst das Auge noch einmal die gewaltige Dimension des Volumenverlustes der Pasterze. Meine müden Beine machen gewiss 50 Höhenmeter – zweimal bergab und zweimal bergauf – mehr, als es 1980 der Fall war. Was von der uns so fesselnden Faszination Gletscher für die folgenden Generationen übrig bleibt, ist eine traurige Zukunftsvision. Gegenwertig haben wir uns einen leuchtenden Tag geschenkt, der in unserer Erinnerung ewig strahlt.

„Das zu sein, was wir sind, und das zu werden, was uns möglich ist, ist das einzig wahre Ziel im Leben“ – Robert Louis Balfour Stevenson

http://www.bergsteigen.com/eiswand/kaernten/glockner-gruppe/pallavicinirinne

Zurück
Zurück

Barre des Écrins Normalweg

Weiter
Weiter

Cima Tosa - Oh du schönste unter den Eisrinnen